Am 17. und 18. November 2011 trafen sich die Zukunftsinteressierten der Buchbranche zur Tagung E:PUBLISH 2011 im Harnack-Haus in Berlin-Dahlem. Es waren zwei spannende Tage mit Berichten und Anregungen aus dem digitalen Umbruch, der sich gerade in der Buchbranche vollzieht, von den Veranstaltern gar als „Hurrikan“ eingestuft, zumindest, was die Zukunft des stationären Buchhandels angeht. Gut 250 TeilnehmerInnen aus der Buchbranche – überwiegend aus Verlagen und Dienstleistern – diskutierten in Keynotes, Tablesessions, Podien, Workshops und nicht zuletzt den Kaffeepausen ihre Visionen und Best Pratices aus der digitalen Verlagswelt.

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In den folgenden Zeilen stelle ich einige Highlights und gelernte Lessons aus meiner persönlichen Perspektive vor; das vollständige Programm lässt sich ja bequem online nachlesen, die Meinung anderer bei Twitter unter dem Hashtag #epublish11. Das Harnack-Haus bot ideale Räumlichkeiten und schon einige Zeit vor Beginn am Mittwoch waren alle Stehtische im Foyer gut besetzt und die Teilnehmer fleißig im Gespräch. Martina Tittel führte dann souverän und gut gelaunt durch das Programm, das mit den Keynotes von Axel Schmiegelow und Till Moeppert eröffnet wurde. Beide schwärmten vom digitalen Wandel und machten deutlich, dass in den großen Wissenschaftsverlagen der Wandel zum E-Book längst vollzogen sei.

Richtig spannend fand ich dann die Table-Sessions: 14 große runde Tische, an denen jeweils ein Referent in ein Thema einführte oder ein Produkt vorstellte. Ich habe mir mit Begeisterung die App von DocCheck angesehen, bei der ein Medizinbuch-Klassiker von einer großen Mediziner-Community kommentiert wird und auch noch gratis mit Inhalten wie Ultraschallvideos und Horrorpics à la Pschyrembel versorgt wird. Toll! Das ging so eine Dreiviertel Stunde, dann suchte man sich einen neuen Tisch. Ich landete bei Karsten Wenzlaff vom ikosom, der erstaunlich viele gelungene Crowdsourcing/funding-Projekte für Bücher vorstellen konnte und uns die vielen verschiedenen Crowdsourcing-Plattformen erklärte – alles weit über Flattr und Kachingle hinaus. Zur Belohnung gab es einen leckeren Mittagsimbiss und danach die BUDIP-Preisverleihung, währenddessen ich mich um meine Sozialen Medien kümmerte, was dank leistungsfähigem Gratis-WLAN bestens funktionierte.

Dann folgten die 1,25-stündigen Workshops, von denen ich mir Michael Dreusickes über Semantic Publishing ausgesucht hatte. Dreusicke erklärte u.a. anhand seiner Entwicklung PAUX eine Reihe von Aspekten, die in klassischen Content-Management-Systemen (CMS) zu kurz kommen: Die Stufe der Granulierung (bei ihm bis auf Wortebene), die Kennzeichnung von Wörtern nicht nur mit RDFa und mit Verknüpfungen zu Definitionen und Medien (Bilder, Videos usw.), sondern auch mit Sprachleveln, die für E-Learning-Zwecke ausgewertet werden. Außerdem demonstrierte er seine schon als genial einzustufende Suchmaschinenoptimierung über Microsites und die bidirektionale Facebook-Schnittstelle. Also ein Content-Management-System, das nicht nur Content-Container verwaltet, sondern seinen Content auch gleich automatisiert vermarktet.

Die abschließende Podiumsdiskussion kreiste nach meinem Eindruck vor allem darum, dass die Wissenschaftsverlage den Wandel zum Angebot von nahezu nur noch digitalem Inhalt schon weitgehend bewältigt haben.

Ein weiterer Höhepunkt war dann die abendliche Party im Restaurant Fischerhütte am Schlachtensee, zu denen wir mit Bussen gebracht wurden. Auch dort reger Austausch, wieder mit vielen Stehtischen, so dass es leicht war, mit vielen verschiedenen Menschen Kontakt aufzunehmen. Ein rundherum gelungener Tag.

Der zweite Tag ging aus der Veranstaltung Homer 3.0. hervor, die der Berliner Landesverband des Börsenvereins letztes Jahr aus der Taufe gehoben hatte. Nachdem der erste Tag sich besonders mit Fach- und Wissenschaftsverlagen beschäftigt hatte, sollte es jetzt um Belletristik und Sachbuch sowie den stationären Buchhandel gehen.

Kathrin Passig gab zu Beginn ihrer Keynote ein Beispiel ihrer Schlagfertigkeit: Sie sei von den Veranstaltern gefragt worden, ob sie 20 Minuten über die Zukunft des stationären Buchhandels sprechen könne. Dafür brauche sie nur 20 Sekunden – wäre den Rest der Zeit möglicherweise langweilig. Also sprach sie über „Wünsche an den Buchhandel von morgen“ und brachte einige Beispiele, inwiefern der Empfehlungsalgorithmus von amazon bei ihr nicht funktioniere: Sie bekäme nach dem Kauf eines Krimis gleich 18 weitere aus der Reihe empfohlen – oder aber ihre eigenen Bücher. Das sei fatal: ein schlechtes Musikstück koste sie 99 Cent und 90 Sekunden ihrer Lebenszeit. Ein unpassender Film 8 Euro und 90 Minuten. Das falsche Buch jedoch Wochen ihrer Zeit und auch noch 18 Euro. Also braucht es bessere Empfehlungen, die sie im Filmbereich durchaus gefunden habe. Diese Algorithmen beruhten auf der Suche nach Geschmacksnachbarn, nicht auf Empfehlungen von Freunden in sozialen Netzwerken. Dank letzterer den mitunter zweifelhaften Geschmack ihrer Freunde kennenzulernen, sei nicht immer eine schöne Erfahrung gewesen.

Nach diesem wohl doch Abgesang auf den stationären Handel sollte Ronald Schild mit dem E-Book-Vertrieb von Libreka und einem eigenen Lesegerät für den unabhängigen Buchhandel etwas Hoffnung verbreiten. Buchhändler können das Gerät verkaufen und erhalten dann 20 % aller Umsätze, die der Leser damit generiert. Da die Holtzbrink-Verlage in den USA bereits 30 % ihrer Umsätze mit E-Books erzielten, könnte das eine Chance für großes Geschäft sein. Dafür müsse Technologie zur Kernkompetenz der Buchhändler werden. Das Publikum mochte sich dieser Vision nicht so recht anschließen …

Florian Nehm von Axel Springer begeisterte mit einer Präsentation über nachhaltiges Einkaufsverhalten von Verlagen. Dass das Papier aus umweltfreundlicher und politisch korrekter Produktion kommen solle, habe sich bereits herumgesprochen. Dass konsequenterweise auch die Seltenen Erden für die Produktion von Smartphones nicht von dubiosen kongolesischen Milizen aus illegalem Abbau erworben werden sollten, verstehe sich von selbst. Axel Springer beschäftigt hier also einen Mitarbeiter, der die Verlagsgruppe durch konsequente Nachverfolgung der Lieferketten von unliebsamen Skandalen freihält. Die Springer-Journalisten haben ja gut damit zu tun, Skandale bei anderen Firmen aufzudecken. Vorbildlich.

Ein Highlight war für mich dann Sven Fund, der von der Branche eine radikale Neuorientierung hin zu Kundenbedürfnissen forderte: von einem angebotsorientierten Geschäftsmodell zu einem nachfrageorientierten. Sogar die Forderungen der Piratenpartei müssten endlich in der Buchhandelsbranche diskutiert werden und nicht mit Verweis auf das aktuelle Urheberrecht einfach abgetan werden. Wachstum macht er bei Open Access aus, worin die Europäer den amerikanischen Verlagen weit voraus seien. De Gruyter habe mit der TOPOI-Reihe dieses Prinzip auch im Buchbereich  erfolgreich weitergeführt. Die Kalkulation des Verlages müsse radikal verändert werden: Kunden sollten nicht für bedruckte Papierbogen zahlen, sondern für Relevanz. Nutzung kann digital recht gut gemessen werden – und sie kann über Kampagnen mit einem begrenzten Gratiszugang auch erfolgreich auf ein um ein Vielfaches höheres Niveau gehoben werden, selbst bei Byzantinistik-Zeitschriften. Außerhalb von Kampagnen erhöhe die semantische Anreicherung die Nutzung: 80 % der Leser kommen über Google.

Im Anschluss gab es wieder Tablesessions wie am Vortag, diesmal bekamen auch die Keynote-Sprecher eigene Tische, um ihre Thesen weiterzudiskutieren. Nach der Vertiefung bei Sven Fund (mit den Dingen die er nicht ganz so laut sagen wollte) saß ich bei Ute Nöth (books+), die aus ihrem Nähkästchen für die Erzeugung von enhanced E-Books plauderte. Sie verdeutlichte alles anhand der Produktion von Claudia Weiss’ „Schandweib“. Mitgenommen habe u.a. ich die motivierende Erkenntnis, dass die audiovisuelle Materialsammlung für das enhanced E-Book bei der Promotion des Printtitels sehr förderlich war, da das Material von Radio, TV, Blogs usw. gern genommen wurde – und so eine richtig zündende Kampagne entstand.

Nach der Verleihung des AKEP-Awards an neobooks wärmte sich die Gemeinde dann an einem Podium, auf dem E-Book-Pionier Volker Oppmann das Kulturkaufhaus Dussmann als seinen „Tempel der Inspiration“ (Zitat!) enthüllte, und dass dieses auch ein beliebtes Ziel von Touristen sei und es sich sogar vergrößere. Man stellte des Weiteren fest, dass im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg immer wieder neue unabhängige Buchhandlungen gegründet werden. Ich freue mich also, dass es ungefähr einem Promille des Buchhandels bestens geht – und besuche dann Katja Splichals gelungenen Workshop über das Monitoring sozialer Medien. Splichal stellt zahlreiche Tools vor, die z.B. Zu- und Abgänge von Twitter-Followern automatisch analysieren und Vorschläge unterbreiten, doch mal etwas positivere Stimmung zu vertwittern. Sie stellt zahlreiche Beispiele von wenig gelungener, aber auch sehr erfolgreicher Community-Bespaßung durch Verlage vor. Zahlen sind relativ: Es kommt selten auf die absolute Zahl z.B. der Twitter-Follower an, sondern auch auf das Verhältnis von Followers und Follows an. Inspirierende Zusammenfassung von einer echten Fachfrau!

Den Abschluss bildete ein Podium oder vielmehr eine Präsentation von Auszubildenden der Verlagsbranche. Sie schienen mir recht abgeklärt in ihren Ansichten über die Aufgaben von Verlagen und Buchhandlungen, jedenfalls ging es nicht um Hurrikans. Für das nächste Mal wünsche ich mir einen etwas anderen Auftrag an den Nachwuchs, z.B.: Wie sieht die Mediennutzung bei den heute 20-Jährigen aus? Und was wird das in 10 Jahren für Konsequenzen haben?

Alles in allem eine sehr besuchenswerte Konferenz, zahlreiche gute Gespräche, eine dichte Diskussionskultur. Alle Präsentationen und Videos der Plenum-Veranstaltungen gibt es in wenigen Tagen online zum Download.

Ich freue mich, dass der digitale Wandel überall in den Köpfen angekommen ist und umgesetzt wird. Und ich bin gespannt, ob der erste Tag nächstes Jahr (15.–16.11.2012) immer noch „buch“-digitale heißt – oder ein neues Wort gefunden wird. Und ob der zweite Tage noch von der homerischen Odyssee inspiriert ist oder von Kolumbus (zu neuen Ufern?), Magellan, Charles Vane, Humboldt … oder – für die Freunde des Sarkasmus – von den Reiseergebnissen eines Herrn Darwin, den ja Ronald Schild in seinem Keynote-Titel schon deutlich anklingen ließ.

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