In der historistischen, holzgetäfelten Bibliothek des Berliner Rathauses Schöneberg fanden sich am Dienstag, 15. Februar 2011 abends gut 25 Menschen ein, um über aktuelle Entwicklungen beim E-Book zu sprechen. Eingeladen hatte der Bezirksbürgermeister bzw. die Schöneberger Wirtschaftsförderung, die uns gut bewirtete, organisiert wurde es für mstreet von den beiden Inhabern von culture-to-go, Dr. Michael Müller und Jörn Brunotte.

Keynote – Detlef Bluhm

Der Autor und Geschäftsführer des Berliner Landesverbandes des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels betonte, dass er die Keynote als Autor und nicht als Vertreter des Börsenvereins hielte. Das ließ aufhorchen und machte den Vortrag (ja, Vortrag, keine Präsentationsfolien!) gleich viel spannender.
Bluhm wunderte sich, wie lange das E-Book von der literarischen Vision bei Stanislaw Lem 1961 bis zu seiner beginnenden Marktdurchdringung 2011 gebraucht habe: immerhin 50 Jahre, ein halbes Jahrhundert. Der Autor recherchierte 2007 gerade für ein Buch zur Kulturgeschichte des Plagiates, als Amazon den ersten Kindle und 90.000 E-Books dafür auf den Markt brachte. Er begriff dies als eine Medienrevolution und veränderte seine Recherchen, so dass schließlich 2009 das Werk Von Autoren, Büchern und Piraten: Kleine Geschichte der Buchkultur daraus hervorging.
Im März 2009 wurden bereits 280.000 Titel als E-Books angeboten. Der wissenschaftliche Springer-Verlag bietet derzeit neben 80.000 gedruckten Büchern auch 40.000 E-Books an, erzielte im Jahr 2010 immerhin 165 Mio. Downloads und generiert 50 % seines Umsatzes mit elektronischen Produkten. Und er geht davon aus, dass in ca. 5 Jahren überhaupt keine gedruckten Werke mehr bei ihm erscheinen.
Solche Umbrüche würden im Feuilleton kaum wahrgenommen, das sich an den noch viel zu geringen E-Book-Verkäufen im deutschen Consumer-Markt orientiere.
Die bisher niedrigen Verkäufe lägen zum einen am inzwischen unübersichtlichen Markt und umständlicher Handhabung, zum anderen daran, dass Amazon bisher in Deutschland kaum nennenswert präsent gewesen sei (was sich aber innerhalb der nächsten Wochen gewaltig ändern solle). Viel problematischer seien allerdings die Preisvorstellungen der deutschen Verleger, die die E-Book-Preise bei ca. 80 % des Preises für das gedruckte Buch etablieren wollten. Dieses Pricing stoße praktisch überall außerhalb des Buchhandels auf blankes Unverständnis. Schließlich müsse man keine Materialien mehr verbrauchen und durch die Gegend fahren. Außerdem könne man das E-Book nicht verleihen, wieder verkaufen oder auch verschenken.
Aktuell ginge die Diskussion sehr stark um die Marktetablierung des E-Books, das einfach nur eine elektronische Fassung des gedruckten Werkes sei. Angesichts der vielfältigen Lesegeräte wie etwa der Tablet-Computer, allen voran Apples iPad, tritt seit letztem Jahr die Frage nach angereicherten, enhanced, enriched oder tuned E-Books in den Vordergrund.
Das konventionelle (E-)Buch werde alsbald von angereicherten Medien abgelöst, die außer Text und Bildern auch Videos und 3D-Darstellungen anbieten, wie etwa vom Autor Jürgen Neffe mit seinem Konzept Libroid gerade propagiert.
Momentan stehen aber auch hier Preisvorstellungen der Rechteinhaber einer Umsetzung in größerem Umfang entgegen, etwa wenn der NDR bei einem jüngst geplanten Projekt immer noch 380 € Lizenzgebühren für ein 5-Minuten-Video in einem enhanced E-Book erlösen wollte.

Technik und Trends – Johannes Haupt

Ich übergehe in meinem Bericht die kurzweiligen Ausführungen zu analogen Vorgängern von enhanced books und auch die Erläuterungen über die Geräteklassen, die sich vor allem beim Display unterscheiden – hintergrundbeleuchtet wie Computerbildschirme oder E-Ink wie beim Kindle.
Interessant dabei ist vor allem, dass Apple in wenigen Monaten 10 Mio. iPads verkauft hat, viel mehr als Amazon Kindles in 3 Jahren. Mit Apples Geräten sind Videos, Computerspiele und vieles andere möglich und das alles ganz gut tragbar. Hier sei die Spielwiese der Enhanced E-Books, die auf E-Ink-Displays (zu langsam und bisher nur schwarzweiß) nicht funktionieren.
Der eigentlich neue Trend ist das Social Reading. Zum einen auf dem Kindle (und den Kindle-Apps auf iPhone, Android und klassischen Computerbetriebssystemen), zum anderen auch in anderen Apps wie denen von textunes, bei denen ich auch Textpassagen aus der App heraustwittern kann. Auf dem Kindle kann ich inzwischen Markierungen nicht mehr nur für mich machen, sondern auch für andere freigeben, anonym oder nicht – und mir einblenden lassen, wie viele Leser desselben Buches eine bestimmte Stelle markiert haben. So könnte auch ein Lehrer einmal seinen Schülern seine Notizen zu einem Werk zur Verfügung stellen.
Sascha Lobos Roman-App „Strohfeuer“ lässt es zu, dass aus der App heraus Fragen an den Autor gestellt werden können. Immerhin sind 35 Leserfragen zusammengekommen, deren Antworten man auf Lobos Webseite nachlesen kann.
Auch sonst sind Konvergenzen zu beobachten, so bietet Amazons Kindle inzwischen auch Kindle-geeignete Spiele an.
Nicht zuletzt kommt Augmented Reality ins Spiel bei der App „Books around“: Hier können Leser literarische Orte eintragen. (Leider ist da seit Veröffentlichung im November 2010 noch überhaupt nichts dazugekommen, also wohl eine Totgeburt – AMS.)
Die Vortragsfolien gibt es auf Lesen.net.
Kurzum: Es bleibt gerade ausgesprochen spannend.

Nach einer gründlichen Pause mit allerlei angenehmen Gesprächen, z.B. mit @ebookstr und @beamebooks und  ging es dann weiter mit einer Podiumsdiskussion, die allerdings eher eine moderierte Produktpräsentation war, was dem Ganzen jedoch keinen Abbruch tat, sondern sich als ausgesprochen informativ herausstellte:

Interaktiver Roman bei Aufbau

Markus Thie, Verkaufsleiter des Berliner Aufbau Verlages, stellte das Konzept des interaktiven Romanes vor, dass sich mit Mitteln des epub-Formates darstellen ließ, so dass der Leser sich auf verschiedenen Wegen durch die Romanstoffe lesen könne und damit gewissermaßen jeder Leser ein anderes Buch lese.
Es handelt sich um den Thriller „Glanz“ von Karl Olsberg, der die Gefangenschaft in einer Art Computerspiel beschreibt. Hier war also ein passender Stoff eines passenden Autors, was sich für dieses Experiment anbot. Der Leser kauft das E-Book entweder separat oder er kauft das Buch und bekommt das E-Book gratis dazu – über einen Freischaltcode im Buchdeckel. Am 15. März wird das Experiment auf der Buchmesse vorgestellt.

Reise- und Museumsführer bei culture-to-go.de

Michael Müller von culture-to-go sprach über seine Erfahrungen mit Reise- und Museumsführern. Recht viele seien als iPhone-Apps erschienen, wie eine kurze Recherche im App-Store zeigt. Es gibt erste „enhanced“ Reiseführer wie die „Ostseestädte“ des Trescher-Verlages bei textunes.
Erstaunlicherweise werden hier von Museen immer noch eher lineare Führer bestellt, angelehnt an das sehr erfolgreiche Konzept der Audioguides. Diese ließen sich auf über epub und ähnlich Formate relativ leicht realisieren, hätten aber aufgrund der Bildlastigkeit immer wieder unschöne Umbrüche.
Spannender seien eigentlich Datenbank-Anwendungen, allerdings auch schwieriger zu realisieren.

Das E-Schulbuch im „Nachmittagsmarkt“ bei Cornelsen

Auf der Plattform „lerncoachies.de“ hat der Berliner Schulbuchverlag Cornelsen Schulbücher digital dargestellt und angereichert. Kinder sehen hier die Original-Seiten aus dem am Vormittag genutzten Schulbuch und können die Übungen online durchführen, erhalten Feedback, ob sie die Aufgaben richtig gelöst haben und können sich vertiefende oder unterstützende Texte und Videos zu Hilfe holen. Diese Funktion wird von Eltern für einstellige Euro-Beträge pro Monat abonniert. Christine Hauck und ihr Team haben dieses Projekt sehr eng mit Eltern zusammen entwickelt und es wird sehr gut angenommen: Sie bekommen bisweilen das scherzhafte Feedback, dass sie „Familienfrieden verkaufen“ würden.
Da Deutschland laut OECD mit der technischen Ausstattung der Schulen Schlusslicht ist, am Nachmittag aber den Schülern beste Computer-Ausstattungen zur Verfügung stehen, bot es sich an, den elektronischen Markt von hier aus aufzurollen.
Über „klassische“ E-Books auf mobilen Geräten denkt Cornelsen nach, findet aber im aktuellen epub-Format in den meisten Fällen keine zufriedenstellende Lösung, da bei Schulbüchern das Doppelseiten-Layout Teil des didaktischen Konzeptes ist und der Neuumbruch auf den unterschiedlichen Gerätegrößen gerade dieses zerstören würde. Die Entwicklung von epub 3 und den sich dort bietenden Layout-Möglichkeiten wird jedoch aufmerksam verfolgt.

Alles in allem ein informativer Abend, eine gelungene Auswahl der Referenten. 2011 verheißt in Sachen E-Book tatsächlich spannend zu werden – welche der prognostizierten Megatrends werden sich tatsächlich durchsetzen?

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